Sozialraumanalysen, Sozialindikatoren, Wahlanalysen, WiN-Gebiete in Basel, Bremen, Bremerhaven, Dresden, Hamburg, Hannover, München, Nürnberg Oberhausen, Wien
Donnerstag, 26. November 2015
Einleitung
Was kann eine Sozialraumanalyse leisten?
Liebe Leserin, lieber Leser,
in diesem Blog geht es um die sozialräumliche Analyse von Städten. Dabei steht keine akademische Frage im Vordergrund, wie der wissenschaftliche Begriff möglicherweise nahelegt, sondern vielmehr werden Themen des Alltagslebens behandelt, die für die heutige Stadtpolitik von erheblichem Gewicht sind. So suchen beispielsweise immer mehr Städte nach Lösungen für ihre städtebaulichen und sozialen Problemviertel.
Mit einer Situationsschilderung dieser Brennpunkte wie der Dortmunder Nordstadt oder dem Bremer Viertel Tenever soll hier jedoch nicht begonnen werden. Ausgangspunkt ist vielmehr eine ganz einfache allgemeine Frage, die auf die Hintergründe hinweist, die soziale Disparitäten in einer Stadt erst entstehen lassen. Sie lautet:
Wo möchte ich wohnen?
Das ist eine Überlegung, die jeder anstellt, der neu als Student in eine fremde Stadt kommt, nach einem Berufswechsel eine neue Unterkunft benötigt oder mit seiner aktuellen Wohnsituation unzufrieden ist.
Dabei wird jeder bereits vorher Wohnwünsche oder Präferenzen besitzen, wobei sich bereits die angestrebten Wohnformen wie das Leben als Single, als Wohnen mit einer Partnerin oder einem Partner bzw. in einer Wohngemeinschaft unterscheiden lassen. Ähnliches gilt für die Nähe zu einer pulsierenden City oder für eine Vorliebe für mehr Ruhe und Natur am Stadtrand.
Bei dem konkreten Blick auf den Wohnungsmarkt muss man jedoch feststellen, dass sich gewünschten Kombinationen nicht immer leicht verwirklichen lassen und man zu Kompromissen gezwungen wird. Die härteste Restriktion ist dabei die Miethöhe, da wohl fast jeder gern eine attraktive Wohnung hätte, die über seinem Budget liegt.
Diese harte Kappungsgrenze trifft besonders die Bezieher von Transferleistungen, die nicht nur durch ihr Einkommen, sondern auch eine spezielle Angemessenheitsprüfung ihrer Wohnsituation einer deutlichen Kontrolle unterworfen sind, sodass sie mehr und mehr in Vierteln leben, in denen es noch preiswerten Wohnraum gibt.
Die sozalräumliche Differenzierung von Städten
Diese Präferenzen und Zwänge auf dem Wohnungsmarkt haben zu einer unterschiedlichen Verteilung der Einwohner auf die verschiedenen Teile einer Stadt geführt. Dabei lässt sich mit Hilfe empirischer Auswertungen feststellen, dass diese Streuung nicht zufällig erfolgt, sondern nach relativ festen Regeln.
Diese sozialräumliche Verteilung ist hier am Beispiel der Stadt Bremen, die über eine besonders informative Städtestatistik verfügt, dargestellt.
Mit den üblichen Abstrichen, die man bei jeder sozialen Regelmäßigkeit machen muss, lässt sich dieses Modell für praktisch alle Großstädte verwenden. Es ist daher eine gute Grundlage für eine Analyse der einzelnen Städte und die sozialräumliche Verteilung ihrer Einwohner, aber auch für Vergleiche zwischen verschiedenen Städten.
Dafür gibt es sehr unterschiedliche Einsatzfelder, die nicht nur von akademischem Interesse sind und daher hier im Vordergrund stehen sollen.
Die soziale Segregation als stadtpolitisches Problem
Die Veränderungen der Sozialstruktur im Zuge der Globalisierung, der Migration und des demografischen Wandels schlagen sich deutlich in der räumlichen Verteilung der Bevölkerung nieder. So muss die alte Trennung nach Arbeiter- und bürgerliche Vierteln, also nach dem sozialer Status, und nach dem familialen Status zumindest modifiziert werden, da sie weder die heutigen Verteilungsmuster korrekt abbilden noch die Quartiere besonders gut ausweist, für die sich die Politik vor allem interessiert: Das sind mit von Stadt zu Stadt unterschiedlichen Bezeichnungen die Wohngebiete von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, womit konkret Viertel mit überdurchschnittlich vielen Hartz IV-Beziehern, Arbeitslosen und Ausländern gemeint sind, in denen relativ viele Kinder und Jugendliche leben.
Anders als früher liegen diese Gebiete nicht mehr am Cityrand, sondern sind häufig die Großsiedlungen der 1960-er und 1970-er Jahren, die teilweise an den Außengrenzen der Städte gebaut wurden. Verantwortlich dafür sind die Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen des Altbaubestandes am Innenstadtrand, der zu einer deutlichen Verdrängung einkommensschwacher Gruppen geführt hat. Dieser Prozess wird üblicherweise als Gentrifizierung bezeichnet.
Nach den Programmen allen großen politischen Parteien ist diese Entmischung der Bevölkerung unerwünscht. Man will daher dieser Segregation entgegenwirken, wodurch man im Segrgationsindex einen fast idealen Indikator für den tatsächlichen Erfolg dieser erklärten Zielsetzung gewinnt.
Die Frage der sozialräumlichen Gerechtigkeit
Das Leben in einem Stadtviertel bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Bewohner. Das gilt sowohl für die Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, ÖPNV-Anbindung, Ärzten usw. als auch für das nachbarschaftliche Umfeld. Hier können mehr oder weniger gute Kontakte entstehen und sich Bezugsgruppen herausbilden, die eine Integration in das Bildungs- und Arbeitssystem unterstützen oder behindern. Problematisch im Sinne der sozialpolitischen Zielsetzung ist dabei die Herausbildung einer Armutssubkultur, in der sich viele Bewohner gut eingerichtet haben.
Belastend kann dabei das Image sein, das einzelne Straßen oder ganze Wohnblöcke innerhalb einer Stadt erhalten, womit den Bewohnern ohnehin benachteiligter Wohngebieten eine Integration vor allem in das Arbeitsleben sehr erschwert wird, wenn mit einer Adresse in den Personalabteilungen bereits eine Stigmatisierung der Bewerber verbunden ist.
Sozialräumliche Verhaltensanalysen
Innerhalb der Sozialräume verhalten sich Menschen unterschiedlich. Das kann jeder beobachten, der mit offenen Augen durch ein altes Villengebiet, eine Siedlung mit Einfamilienhäusern am Stadtrand oder eine in die Jahre gekommene Hochhaussiedlung geht.
Dafür sind teilweise allein die unterschiedlichen sozialen Merkmale der Bewohner verantwortlich. Es ist also ein reiner Summeneffekt, wenn man es einmal mathematisch ausdrücken will.
Daneben sind jedoch noch zwei andere Zusammenhänge denkbar und möglich, die damit eine ganz besondere Berücksichtigung erfordern.
Zum einen kann sich die infrastrukturelle Ausstattung in Wohngebieten unterscheiden, und zwar ganz unabhängig vom Bedarf oder der Nachfrage, die fast zwangsläufig in Single-Wohngebieten anders ist als in Quartiere mit jungen Familien und Kindern. So kann sch die Versorgung, auch wenn man die Struktur eines Areals berücksichtigt, deutlich unterschieden, wenn man etwa an die Ausstattung mit Grünflächen oder Arztpraxen denkt. Diese Versorgungsqualität wirkt sich auf die Wohnqualität und sogar das Freizeitverhalten sowie die Gesundheit der Bewohner aus, und zwar ganz unabhängig von ihrem sozialen Status.
Zum anderen orientieren Bewohner ihr Verhalten immer auch an dem ihrer Nachbarn, die nicht selten zu Bekannten und sogar Freunden werden. Man kann und muss daher erwarten, dass sich dieselbe Person, wenn sie in verschiedenen Sozialräumen wohnt und lebt, abweichende Einstellungen entwickelt.
Die ökologische Wahlforschung sozalräumlich modernisiert
Da Sozialräume eine relativ ähnliche Bevölkerungsstruktur besitzen, eignen sie sich als Ersatz für konkrete Daten über die eigentlich interessierenden Bevölkerungsgruppen, wenn diese Informationen sich nur schwer beschaffen lassen. Es repräsentiert dann beispielsweise das Wahlverhalten in einem Arbeiterquartier die Stimmabgabe von Arbeitern. Dadurch kann man mit Hilfe dieser ökologischen Wahlforschung, da kein Sozialraum wirklich völlig homogen ist, nur eine Näherungslösung sein, die jedoch den großen Vorteil hat, dass sich Informationen schnell und vor allem auch preiswert beschaffen lassen. Sie werden schließlich von der amtlichen Wahlstatistik geliefert und erfordern keine eigenen Erhebungen.
Gerade für einzelne Städte und kleinere Parteien und Wählervereinigungen lassen sich so sozialstruktureller Daten gewinnen, die es sonst nicht gibt. Das gilt in Bremen etwa für die kleinen und jungen Parteien AfD und Piraten sowie die regionale Wählergemeinschaft „Bürger in Wut“.
Sozialräumliche Gesundheitsforschung
Stärker auf die einheitliche Sozialstruktur stellt die sozialräumlch orientierte Gesundheitsforschung ab, da wegen des Datenschutzes einige wichtige Individualdaten etwa zum Raucherstatus nicht vorliegen. Das gilt etwa für den sozialen Status, der einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten besitzt, wie die schichtspezifichen Werte für das Rauchen, den Alkoholkonsum und regelmäßig sportliche Aktivitäten anzeigen.
Um hier Zusammenhänge etwa zu Krebserkrankungen zu ermitteln, verwendet das Krebsregister Bremen einen Benachteiligungsstatus der Ortsteile, um die unterschiedlichen Häufigkeiten von Krebserkrankungen und -sterbefälllen zu ermitteln.
Sozialräume als Grundlage der Bildungs-, Jugendhilfe- und Sozialplanng
Sozialräume dienen jedoch nicht allein der Verhaltensanalyse. Sie können auch unmittelbar für die Verteilung öffentlicher Mittel herangezogen werden. Das gilt etwa für räumliche Bedarfsermittlungen für Erzieher, Lehrer, Sozialabeiter usw., wenn in sozial benachteiligten Gebieten höhere Bedarfsquoten etwa für die Zahl der Erzieherinnen oder der Lehrer gerechnet werden. Hier erfolgen etwa für die Kinder und Jugendlichen in sozialen Brennpunkten prozentuale Zuschlage zu den Werten für den gesamtstädtischen Durchschnitt, deren Größe teilweise durch angeblich objektive Formeln ermittelt wird.
Ein sozialräumlich fundiertes Politikkonzept: Die Bremer WiN-Gebiete
Die Ermittlung der sozialen Benachteiligung einzelner Wohngebiete ist nicht nur eine Grundlage für die Behandlung verschiedener empirischer Fragestellungen, sondern hat auch eine eminent politische Bedeutung. Wenn eine Kommune und ihre Ratsmehrheit das Konzept einer sozialen Stadt verfolgen, bedeutet das fast zwangsläufig den Abbau von Segregation und damit spezielle Maßnahmen in den Gebieten, in denen überdurchschnittlich viele sozial benachteiligte Einwohner leben.
Um entsprechende städtebauliche, aber auch bildungs- und sozialpolitische Interventionen räumlich zu konzentrieren, benötigt man daher eine Abgrenzung geeigneter Teilräume und einen Maßnahmenkatalog, der zu zieladäquaten Änderungen der bestehenden negativen Situation führt.
Einen inzwischen schon relativ alten und daher erprobten Weg hat Bremen mit seinem WiN-Konzept aufgezeigt. Das Akronym „WiN“ steht dabei für „Wohnen in Nachbarschaften“, womit auf eine intendierte Zielsetzung des Projekts hingewiesen wird: die Stärkung nachbarschaftlicher Interaktionen, die gerade in den Großsiedlungen, für die das Programm zunächst konzipiert wurde, nur sehr schwach entwickelt waren.
Im Zuge der Entwicklung haben sich WiN-Gebiete von ca. 6.000 Einwohnern als geeignete Bezugsräume für den Bremer Maßnahmenkatalog herauskristallisiert. Der besteht als organisatorischer Infrastruktur aus einem Quartiersmanager und einem Quartierstreffpunkt. Die Beteiligungsarbeit der Bewohner erfolgt über Versammlungen, für deren Teilnahme keine Restriktionen bestehen. Diese WiN-Foren können über die einzelnen WiN-Projekte und damit kommunale Finanzen entscheiden. Für die Entscheidungen wird jedoch Einstimmigkeit verlangt, sodass sich beispielsweise teilnehmende gewählte Vertreter trotz dieses plebiszitären Elements nicht überstimmt fühlen können.
Auch wenn sich das WiN-Konzept inzwischen durch den politischen Prozess von seinen fast idealtypisch erscheinenden Anfängen entfernt hat, können die Bremer Erfahrungen weiterhin bei der Diskussion dieser Problemgebiete hilfreich sein, zumal hier sogar vor einigen Jahren eine Evaluation erfolgte.
Die statistische Schwelle zu den sozialräumlichen Aussagen: Zahlen und Indizes
Die Ergebnisse der Sozialraumanalyse verlangen für jede Stadt eine mehr der weniger umfangreiche statistische Auswertung von wichtigen Merkmalen der amtlichen Statistik. Das ist eine oft komplexe statistische Arbeit, da in vielen Fälle aus den Einzelindikatoren wie dem Anteil der Hartz IV-Empfänger, der Einpersonenhaushalte, der Ausländer usw. in einem Ortsteil oder einem anders benannten statistischen Zählbezirk ein Index ermittelt wird. Diese Indexbildung ist notwendig, um die Komplexität eines durch die politische Diskussion vorgegebenen Begriff wie „soziale Benachteiligung“ zu erfassen.
Die praktische Umsetzung kann dann zu unterschiedlichen statistischen Lösungen führen, die teilweise nicht überzeugen, wie einige Beispiele belegen.
Für eine Stadtpolitik, die soziale Unterschiede abbauen will, bieten die Sozialraumanalyse und ihr statistisches Instrumentarium daher noch eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die zu einer größeren Zielgenauigkeit von Maßnahmen und damit einem effektiveren Einsatz von knappen Finanzmitteln führen können.
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